Mutter Courage,

ich erinnere mich an dich… Irgendwo in einem zugestaubten Eck meiner inneren Bibliothek, ein Wagen, ein stahlgrauer Himmel und eine Gestalt, der Schatten einer energischen Frau. Leid und Lebensdurst am Rande des Gemetzels. Kälte, Wind und Blut. Aber, Mutter Courage, die verblassten Bilder sind wieder aufgetaucht, weil aufgefrischt in den Münchner Kammerspielen. Eine pixelige Skyline mit Hochhäusern und Bergen im Hintergrund. Ein Hauch Amerika und ein Tick Computerspiel auf dünnweißem Vorhang.

Dahinter: Lichterspiele, als ob ein riesiger Skorpion seinen blauleuchtenden Stachel heben und senken würde. Dann: Fluter. weiße Wände, grauweiße Kostüme, Messing, Federn, ne Dose, ne Kanonenkugel, ein paar Stöckelschuhe und mitten drin throhnend, die große Maschine, ein Motor, nackte Technik. Ihr Wurmfortsatz: ein Feuerlöscher im Prinzessinnenkleidchen.

Thomas Schmauser gelingt es mit einer furios minimalistischen und zugleich modernistisch-martialischen Bühne von Anfang an klare Verhältnisse zu schaffen. Das ist zwar Brecht, aber das ist auch jetzt und hier und zugleich immer und überall. Hier sitzt der Souffleur auf der Bühne und diktiert laut und deutlich, aber er marschiert auch als Ehrengarde und steppt sogar den Krieg.

Die Kostüme (Estelle Cassani) unterstützen sowohl die schlichte und doch ausdrucksstarke Visualisierung, als auch die transhistorische Lesbarkeit des Stücks und öffnen diese auf die Zukunft hin. Die Klangmalerei von Ivica Vukelic schafft es, vorgegebenes Liedgut, historische Situierung und Aufführungsmoment in einem auditiven Raum ohne vierter Wand, zu vereinen. Dabei werden extreme Gefühlslagen auf eindringliche Weise vertont: Die Angst dröhnt als dumpfes Pumpen und der Horror als schrilles Piiiiiiiieeeep in uns ein.

Mutter Courage, die innere Bibliothek kennt jetzt das wankende Stakseln und das naïve Krächzen der Yvette sowie das taumelnde Schweigen der Kattrin, interpretiert durch Lena Lauzemis.
Mutter Courage, die Bibliothek, sie ist bereichert durch die Fragilität und konzentrierte Bleiche des Schweizerkas und Soldaten eines Christian Löber, in ihr lachen die Balken über das Watscheln, das Murmeln und Glotzen eines Stefan Merki.

Auch die Windungen der Würdenträger aus Kirche und Heer (Peter Brombacher) kringeln da.

Aber vor allem und tief eingebrannt sind das Zittern, das Winden, das Stottern und das Dröhnen des Eilif, genial gespielt von Leonard Klenner.


Rundum die Ereignisse klammert sich deine ewige Sorge, Courage, du und deine Händel, dargestellt von Ursula Werner und, kaum warmgespielt, vergesse ich ihr Alter und du wirst jung und zackig, Courage, um im Laufe des Stücks in die Einsamkeit hinein zu altern und wieder starr zu werden und weiterhin stur zu bleiben.

Weil in deiner Welt kein Offizier oder Feldprediger und kein Spion oder Koch ohne Makel ist, weil Dir kein Kind bleibt, weil der Krieg zwar ewig dauert, aber keine Gewinner kennt, nein, keine. Durch diese Inszenierung wird alte Weisheit neu unterstrichen. Aber nicht nur das, da ist noch was.

Allerspätestens wenn die Fahne eingeholt wird, oder besser gesagt, spätestens wenn klar wird, dass die blaue Fahne eigentlich ein Vorhang in ukrainisch Blau-Gelb ist, bricht diese gewaltige Metapher der gefräßigen Kriegsmaschinerie ins Hier und Jetzt ein. Botschaft per Überraschung: Zwar wird in der Welt des Spiels eine Fahne eingeholt, aber dadurch wird sie umso größer und einnehmender über den Horizont des Publikums gezogen, um dann auf der offenen rechten Seite, hinter den Scheinwerferbatterien, zum Stillstand zu kommen.
Das ist nicht nur ein genialer metatheatraler Zug, sondern auch eine Spielerei mit der Tradition. Der Brechtsche Zeigefinger, er ist zwar da und er zeigt uns auch, dass das Spiel den Zuschauer unmittelbar betrifft, aber zugleich ist er ein zweifarbiger Vorhang, eine Bewegung aus leichtem Stoff und dann ist auch wieder gut.
Doch die kleine Überraschung reicht. Ab da ist das, was uns die gelungenen Kostüme und die abstrakte Bühne von Anfang an zeigen, endgültig klar: Das ist zwar damals, bei Pharaonen und Inkas, aber das ist auch gestern und heute, hier bei uns und das ist auch morgen, überall; und der Kriegsmotor, der leuchtet und läuft und läuft und läuft und läuft. Rundum, das große Sterben.

Mutter Courage,

beim Beifallklatschen ist es mir wieder eingefallen: Du bist eine Watsche und die sitzt.

Daniel Graziadei

Dieser Eintrag ist entstanden unter dem Eindruck der Premiere von Mutter Courage in den Münchner Kammerspielen 2015.

[Herzlicher Dank geht an Estelle Cassani, die mir die hier verwendeten Fotos – ohne Einfluss auf meinen Eindruck und diesen Text – auf Anfrage hin zur Verfügung gestellt hat.]