Die folgenden Eindrücke und Überlegungen beziehen sich auf das Stück

BALKAN MACHT FREI

gesehen im Marstall, einer Spielstätte des Residenztheaters München, am 27. Februar 2017.

[Die Bilder haben mit der Sache nichts zu tun.]

Zum Glück bin ich einfach hingegangen und hab nicht vorab die Kritiken gelesen. Genug, dass am Eingang gemunkelt wurde: Publikumsbeschimpfung und Waterboarding. Naja, den trailer hätte ich mir schon anschauen können, benötigt habe ich den aber auch nicht.

Schließlich war ich eineinhalb Stunden lang durchwegs gebannt am Mit- und Gegenfühlen. Was willst du sonst denn auch noch machen, wenn die Figur des Regisseurs (Franz Pätzold) erst vom besserwisserischen Intellektualismus deutscher Hochkultur (Leonard Hohm, Alfred Kleinheinz und Jörg Lichtenstein) bei Vertragsunterzeichnung gedemütigt wird, anschließend eine ganze Reihe an Säulenheiligen der deutschsprachigen Kultur abknallt, das Publikum als Regisseur aber auch als Schauspieler namens Franz beschimpft und auf verschiedenen Ebenen provoziert, um anschließend auf offener Bühne gefoltert zu werden? Was tun, wenn die Frage nicht mehr lautet: Ist das Spiel oder ist das Ernst? Sondern wenn die Frage nur noch schreit: Zuschauen oder eingreifen?

Befremdet finde ich mich sitzend, still. Während andere Aufhören! Stopp! Aufhören! schreien und eine runterrennt, auf die Bühne klettert, den Krug wegstellt und die Herren zur Rede stellt. Aber die Folterknechte machen bald weiter. Also noch zwei Jungs, sie schütten alles Wasser aus. Aber der Folterknecht füllt nach und fragt: Was wollen Sie damit erreichen? Wieder hör ich Stopp! Aufhören! Genug! Es reicht! Und fast möchte ich dagegenhalten. Und laut fragen, was schreit ihr heute hier nur weil ihr‘s Foltern sehen könnt? Wir sind doch zutiefst kompromittiert, stecken tief mit drin, per Geheimdienst beteiligt an der Folter von hunderttausenden von Menschen, jeden Tag in dunklen Anlagen auf diesem Planeten. Wir nennen das Kampf gegen den Terror, obwohl wir ihn säen. Aber ich schweige. Ich kann es ja eigentlich auch nicht mehr aushalten. Bin insgeheim dankbar für die, die wieder auf die Bühne stürmen. Bin stolz auf sie. Noch einmal. Jetzt mit Schere. Die Fesseln auf. Aus.

Sobald die Zuschauer von der Inszenierung zur Aktion gezwungen die Bühne entern und die vierte Wand durchbrechen, scheinen wir angelangt in einem Theater der Grausamkeit wie es Antonin Artaud als total durchdringendes Theater propagierte. Bestätigen sie dieses totale Theater oder klettern die mutigen Menschen, die sich in ihrem Versuch die physische Grausamkeit zu beenden auf die Bühne wagen, über das Theater der Grausamkeit hinaus?

Auf jeden Fall ernten sie für ihre gute Tat den Spott des Geretteten, der bald zu Germania im Hochzeitskleid mutiert und sich von ausländischen Interessen hart rannehmen lässt. Da ist es wieder, dieses ästhetische Wechselbad, das sich zum inhaltlichen, moralischen und existentiellen gesellt. Diese nationalistisch rassische und imperiale Ideologie, in ihrer derzeit beliebten Inszenierung als Opfer, tränkt die Miniaturen und ist das, was mir aufstößt und mich anwidert, bis in jenes letzte Bild, wenn Germania in die riesige Deutschlandflagge eingehüllt abtransportiert wird. Rot leuchtend, noch ein letztes Mal: BALKAN MACHT FREI. Dann Schwarz. Dann Applaus, erst zögerlich, ab dem ersten Soloapplaus für Franz Pätzold als Oliver Frljić, Franz, Germania dann herzlicher, stärker.

Ja ich frag mich, wieso wünsche wir uns, an unserem anfänglichen Klatschen und einigen Fragen beim Publikumsgespräch gemessen, doch ein erhebendes Propagandatheater? Und das, obwohl ich im Ansturm dieser Nationalismen und Rassismen leide und schäume wie selten, also weit stärker mitgerissen und involviert werde. Wieso erfüllt mich dieser intellektuelle Kampf gegen die Kraft des Rezitierten und dieser Kampf um eine persönlich körperlich-geistige Position oder Aktion im Angesicht einer Folterung erst in der Reflexion und nicht im Akt?

Vielleicht, weil das Ringen mit diesem Stück im Zuschauer erst mit Verzögerung abgeschlossen werden kann. Weil die Interpretation und Positionierung nach diesem Ansturm der theatralen Gewalt Zeit braucht, Latenz lebt. Dass wir als Konsumenten Komplizen sind, wurde uns schließlich gerade eben vom Wüterich zugeschrien und wir erlebten es neu mit jedem Wasserguss, mit jedem Spucken und Schnauben und Zittern und Röcheln und Husten des Gefolterten. Es zeigt sich also kein Ausweg, keine Lösung, was bleibt ist die Sicherheit, gerade eben aufgerüttelt an den offenen Wunden zu stehen und zwar keineswegs ungläubig staunend, sondern im offenen K(r)ampf.

Daher glaube ich in diesem konkreten Fall, so komisch das klingt und so selten ich diese Formate schätze, dass mir das Publikumsgespräch im Anschluss an die Vorstellung geholfen hat aus der Isolation der inneren Aufwühlung in verständliche Fragen zu finden. Es handelt sich um ein Publikumsgespräch in dem der Dramaturg und Übersetzer Götz Leineweber und die Schauspieler Leonard Hohm, Alfred Kleinheinz, Jörg Lichtenstein und Franz Pätzold nicht ihr Ego, sondern ein präzises Interesse an den Fragen des Stücks und der Zuschauer zeigen. Ein Gespräch in dem die Schauspieler eine tiefe und anhaltende Beschäftigung mit dem Entwicklungsprozess des Stücks offenlegen, das von ihnen aus der Improvisation heraus zu einem immer wieder neuen und unvorhersehbaren Ereignis mit dem Titel BALKAN MACHT FREI mitentwickelt wurde. Ein Stück, in dem es der Regisseur Oliver Frljić ganz ohne Deutschkenntnisse schafft, sein Theatermodell aus dem kroatisch-bosnischen Kontext einer kulturellen Übersetzung in den deutschen Kontext zu unterziehen. Dabei behält das Verfahren seine Direktheit und aufrüttelnde Kraft, wirkt in keinem Moment museal, sondern greift vielmehr auch in dieser deutschsprachigen Stückentwicklung die passiv genießende Zuschauerposition unerbittlich an.


Ich könnte es mir einfach machen und mit dem Spiegel sagen, dass „Oliver Frjics Wuttheater im Marstall“ einen „Gipfel der Provokation“ darstellt, aber ich finde das Stück ist eher ein Tsunami der Provokation und das auf der Bühne war dann erst das Beben. Aber Vergleiche und Metaphern fruchten nicht. Der Effekt lässt sich nicht bändigen.

Ich sage mir, solange es solches Theater und solche Theatermacher zu erleben gibt, gibt es noch ein drängendes Jetzt und eine weitende Zukunft, vielleicht sogar Hoffnung.

Zugleich frage ich mich aber auch, was mir geholfen hat den Anblick der Folter zu ertragen. Bin ich von der Gewalt des Terrors und Antiterrors abgestumpft, autistisch, kalt geworden? Oder war ich bloß zufällig vorbereitet, weil ich die Nacht zuvor den Trujillo-Roman La Fiesta del Chivo von Mario Vargas Llosa zu Ende gelesen hatte und meine Augen deshalb bereits vorab in Blut, Elektroschocks, Amputationen und Wiederbelebungen getränkte Komplizen eines Terrorregimes waren? Ich weiß es nicht, ist es denn wichtig? Die Dominikanische Republik, Deutschland und die ehemalige Bundesrepublik Jugoslawien sind Gebilde in denen die komplett entfesselte totalitäre Gewalt des Genozids und Massakers zu konkreten Zeitpunkten zutage trat. Das teilen sie allerdings mit vielen anderen Territorien und Grenzen, die Erde ist ein blutgetränkter Ort.

Und so spukt in mir die Frage weiter: Was bedeutet Balkan, und was macht/Macht und was frei? Und der Übersetzer in mir gräbt weiter nach einer Antwort auf die Frage was die Ersetzung von A durch B, also von Arbeit durch Balkan, und die Umwandlung dieses höhnischen Spruchs über‘m Lagertor in einen Theatertitel denn für Millionen von Konsequenzen mit sich bringt.

P.S. Wenn ich ehrlich bin, wünscht sich der Balkantourist in mir, bis zum Schlussapplaus und auch über die Diskussion hinaus, mehr Balkan. Aber der fehlt wohl eher mir als dem Stück. Alles andere ist eine Sehnsucht nach Exotismus, die im Gehaltsgespräch zu Beginn der Vorstellung bereits vorgeführt wurde.


Dennoch, auf meiner Suche nach Balkan stoße ich noch einmal auf den beherzten Eingriff eines kleinen Teils des Publikums: War diese Intervention auch eine Reinszenierung der Entscheidung zum Nato-Angriff unter deutscher Beteiligung von 1999? Jede Interpretation erscheint mir richtig und auch falsch, jede Aktion nichtig und wichtig zugleich. Perspektiven und Geschichten überschlagen sich, löschen und verdoppeln sich:

Als Frage

so offen wie ein Abgrund

in mir

das Stück

Daniel Graziadei 2017