Wenn eine Reise lang und intensiv genug ist, dann tut sich ein neuer Blick auf. Das Eigene erscheint merkwürdig fremd.
Manchmal reicht es auch einen besonders intensiv einwirkenden Text – egal ob Roman, Kurzgeschichte oder Gedicht – zu lesen und schon ist nichts mehr ganz so wie es vorher war. Die Koordinaten verschieben sich, die Zentralperspektive zeigt sich als kläglicher Versuch die Vielzahl zu minimieren, die Welt erfassbar zu machen.
Manche Filme können das auch. Heute war ich in genau so einem. Die Münchner China Filmtage haben begonnen. Willkommen in anderen Realitäten.

Diese beginnen in München eigentlich bereits zumeist dann, wenn man ein alternatives Kino dieser Stadt besucht. Widerstand gegen die Gassenhauer, Filme aus anderen Welten, in anderen Sprachen, mit Untertiteln versehen. Weniger Prunk, mehr Inhalt und Anderwelten. Das Monopol ist so ein Ort.

Aus einem Sonnentag im Übergang zum Abend hinunter in die Eingeweide des Kinos. Im Foyer kleine Grüppchen in angeregten Gesprächen. Dann klingt das Glas, sie beginnen also, die Chinafilmtage 2014. Hier stehen zum großen Teil Menschen, die eine Ahnung haben. Engagierte Sinologen, die das China-Bild hierzulande etwas diversifizieren wollen, uns neue Perspektiven schenken wollen. Während ich auf den Auslöser drücke weiß ich noch nicht, wie sehr die einleitenden Worte im Foyer noch am selben Abend meinem eigenen Sehen gelten werden.

Der Ahnungslose lauscht Professor van Ess der hiesigen Sinologie bei seinen Ausführungen, die den Bogen von frühen Schriften voller Beschwerden der weitreisenden Beamten bis zum Ticket für den (Hochgeschwindigkeits)Zug der Harmonie spannen und damit direkt zur Vorlage für das Plakat und Programmheft führen. Aha, also doch kein Boardingpass. Das wird kein distanzierter Überflug, das kreuzt – frei nach dem Titel Crossing China – tief durch die Mitte.

Spätestens wenn die Dame vom Kunfuzius-Institut München chinesisches Fingerfood vor dem Film ansagt, wird dem Ahnungslosen klar: dieser Auftakt ist nicht bloß eine intellektuelle und filmische Reise, diese Fahrt geht bis in den Körper, es ist auch eine kulinarische Reise. Und sehr schnell stellt sich heraus: eine äußerst leckere noch dazu.


Dann folgt die Hauptspeise, die mich ins nächtliche Schreiben drängt. American Dreams in China. Ein Film aus dem vergangenen Jahr. [Achtung, die folgenden Zeilen verraten einiges und doch nichts über den Film]

Nicht die Studentenjahre der Protagonisten, nicht die ländlich-agrarische Herkunft des einen, die fatale Eroberungen einer US-Amerikanerin des anderen und auch nicht die gekränkte Selbstverliebtheit des dritten lösen in ihrem Zusammenspiel und dem gemeinsamen Aufbau einer hypererfolgreichen Sprachschule für amerikanisches Englisch, inklusive der dazugehörigen Kultur samt Vorbereitung auf Tests und Einreisebefragungen, den Klaps auf den eurozentrischen Hinterkopf aus. Nein.
Die Erfolgsgeschichte, die ohne Europa auskommt und trotz aller Vielstimmigkeit ein neues China als Ablöse der USA in Stellung bringt, die löst den Klaps aus.
Wenn das traditionelle Faible für Prüfungen und Auswendiglernen mit dem Edutainment, dem pompös unterhaltenden Gaukeluntericht, fusioniert und sich als neue Erfolgsgeschichte präsentiert. Wenn dahinter – gegen Ende des Films – die Narben des am eigenen Leib erfahrenen Rassismus deutlich aufbrechen. Wenn die drei Freunde nach ökonomischem Erfolg und emotionalem Bankrott im Kampf gegen die China-Stereotypen amerikanischer Kläger wieder zusammenfinden. Wenn sie im erfolgreichen Börsengang ihr globalökonomisches Happy End finden. Wenn ein glückliches Ende darin bestehen kann, sich die Verletzungen durch die US-amerikanische Überheblichkeit eingestanden zu haben und endlich ernst genommen zu werden weil milliardenschwer und börsennotiert.
Dann wird dem Ahnungslosen einiges klar, das er davor nicht sehen konnte.

Dass die eigene Nabelschau außerhalb der Fluglinien, der Leinwandweiten und interkontinentalen Beziehungen liegt, ist der eine Klaps. München, Bayern, Deutschland, Europa liegen weit außerhalb der transpazifischen Übersetzungen.
Dass die Logik des Aufschwungs in die Gleichberechtigung zwar die Vermischung einiger Elemente beider Systeme beinhaltet, aber dennoch einen kapitalistischen Nationalismus feiert, ist der andere Klaps. Was bedeutet das für die Zukunft?

Genügend Gesprächsstoff also, für das Foyer nach dem Film.

Während der Ahnungslose kurze Zeit später – noch im Kopfklapskino gefangen – durch München radelt, ist die Radlhauptstadt ein gutes Stück provinzieller als zuvor.
Es tut gut, wieder einmal gereist zu sein, für ein paar Stunden und eine Blickwinkeldrehung.
Das bringt neuen Schwung ins Bild.